Demokratischer Prozess vor statischem Recht

Von Lukas Rüefli

 

Im Leben steht Prozesshaftes vor Statischem: Der demokratische Prozess vor dem statischen Recht, die direkte Demokratie vor dem Rechtsstaat. – Was oft durch die Rechtsstaatlichkeit untermauert wird, ist im Wesentlichen demokratiefeindlich und äusserst gefährlich: Gesetzlich verankern lässt sich nämlich jeder Unsinn. Auch die grösste Menschenfeindlichkeit kann per Gesetz beschlossen- und zum Recht werden. Jeder Halunke kann sich auf das Gesetz berufen, solange seine Taten nicht gegen geltendes Recht verstossen. Dass Gesetze systemspezifisch richtig sind, heisst nicht, dass sie auch gerecht sind. Eine Rechtsordnung kann unfair, nicht gerecht, verheerend – gar von unsäglichem Grauen ausgestaltet sein und ins menschliche Desaster führen. Im zweiten Weltkrieg haben sich vor allem unangepasste Menschen gegen das Regime und damit gegen das damalige Rechtssystem gestellt. Die Angepassten verhielten sich gemäss dem damaligen politischen Mainstream korrekt. (Vgl.: Ervin Staub in: Allan Guggenbühl: „Alle haben sich so lieb“, Weltwoche 0309)

Habermas spricht in diesem Zusammenhang nicht mehr vom “handelnden Menschen”, sondern vom “hantierenden Menschen” und macht damit auf die heute bereits weit fortgeschrittene Versystematisierung des Lebens bzw. auf die Verdinglichung der Menschen und auf die Vermenschlichung von Systemen aufmerksam. Selbstredend lassen sich Systeme ebenso wenig vermenschlichen, wie sich Menschen verdinglichen lassen – und jeder Versuch, dies zu tun, endet in der Unmenschlichkeit. Es gilt zu bedenken, dass der Fortschritt noch so gross- ein System noch so raffiniert und ausgeklügelt sein kann: Dinge, auch Systeme können weder etwas tun, noch eine Meinung haben, geschweige denn, sich für eine Überzeugung einsetzen. Sie können nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden, es ist ihnen keine Moral inne. Für unser eigenes Tun ist entsprechend weder ein System, noch ein Experte mit seinen Ratschlägen verantwortlich, sondern wir als Handelnde selbst.

 

  • Systeme ersetzen menschliches Handeln nicht, weil ihnen kein Moment der moralischen Reflektion inne wohnt.

Deshalb braucht es stets die offene Diskussion, die Freiheit für jeden Einzelnen, hinterfragen zu dürfen, die freie Meinungsäusserung und Rede und den Wettbewerb des besten Argumentes wie ihn bereits Sokrates beliebt gemacht hat.  Die richtige Handlung muss stets von Neuem errungen werden. Es ist ontogenetisch etwas grundlegend Verschiedenes, ob jemand aus freien Stücken also in Freiheit aus Eigenverantwortung und Verantwortung gegenüber andern auf eine bestimmte Art handelt oder ob jemand etwas tut, da es durch das Gesetz vorgeschrieben ist! Wenn nun Bürger, die das freie Individuum vor den Rechtsexperten und vor das Rechtssystem stellen, als unhöflich, unflätig, inakzeptabel und schliesslich minder und herablassend als laienhaft gebrandmarkt werden, dann wirkt hoffentlich folgender Satz für Freiheitsliebende besonders tröstend:

  • Nicht die Existenz von Laien schafft Experten, sondern das Vorhandensein von Experten stempelt alle übrigen Mitglieder eines Sozialverbandes zu Laien.

Dieser Zusammenhang soll Hilfe und Aufmunterung sein, die Herausforderung anzunehmen, als Laie mit der akribischen Art des Sokrates nachzufragen, nachzuempfinden, nachzudenken und schliesslich zu beurteilen, um die eigene Stimme allenfalls auch gegen die gängigen Expertenmeinungen zu erheben und dort aufzubegehren, wo es nach eigenem Dafürhalten als für nötig erachtet wird.