Wider die Bevormundung der Bürger durch Experten und Behörden: Ein Plädoyer zur freien Meinungsäusserung im Zeitalter des Expertentums. 

 

Von Lukas Rüefli

Sokrates wurde für das Äussern seiner Ansicht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Heute haben viele Menschen die Möglichkeit, ihre Meinung kund zu tun, ohne mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen. Trotzdem ist das unabhängige Bilden einer eigenen Ansicht oft nicht möglich. Das Problem besteht in der subtilen Einschüchterung und Bevormundung durch Experten und Behörden. Denn in einer Gesellschaft, deren Funktionieren eng mit Systemen gekoppelt ist, werden viele Themen und Probleme an Institutionen weitergegeben und von Experten aufgenommen. Oft wird ihre Meinung als diejenige der richtigen Ansicht kommuniziert. Dies mit dem Ziel, Experten- und Behördenmeinungen von der veröffentlichten- zur öffentlichen Meinung zu machen. Die Weitsicht und Distanz des Laien wird so vernachlässigt. Für Menschen, die weiterhin nach dem Prinzip der direkten Demokratie zusammenleben möchten, hat dies schlimme  Auswirkungen: Zusammenhänge, die ersichtlich werden, wenn man die Themen mit der Distanz des Laien und gesundem Menschenverstand angeht, werden nicht erkannt. Die Sinnfrage wird nicht nur nicht beantwortet, sondern gar nicht gestellt, und: „Erkenntnis entwickelt sich weg von metaphysisch-ethischen Stellungnahmen zur Situation des Menschen in der Welt hin zu Fähigkeit und Anspruch, natürliche Erscheinungen durch Berechnung zu beherrschen und daraus die Ausbildung einer methodischen Lebensführung abzuleiten”, schreibt Michael Metzger.

Zu viele Menschen trauen sich das Bilden und Vertreten der eigenen Meinung wenig zu. – Offenbar schenken wir  Experten und Systemen oft mehr Glauben und Vertrauen als unserer eigenen Wahrnehmung und Erfahrung. Das ist bedauerlich, kommt aber nicht von ungefähr, sondern hat den Ursprung auch in der sprachlichen Ausdrucksweise einiger Politiker, Behörden und Funktionären als Experten. Diese betrachten Systeme aller Art nicht nur als Funktionserfüller, sondern attestieren ihnen Handlungskompetenzen. Systeme können dann beispielsweise drohen oder etwas hin- bzw. nicht hinnehmen. So droht etwa ein Gesundheitssystem zu kollabieren, oder ein politisches System führt entsprechende Gesetze ein. Initiativen wollen, verlangen, tun etwas und Studien haben etwas berechnet. Damit soll vermittelt werden, dass eine Aussage, eine Meinung, ein Statement, oder gar ein Urteil unbedingt richtig und wichtig ist, da es ja quasi von einem System verlangt würde und von denjenigen kommuniziert wird, die ebendieses System am besten kennen und verstehen, nämlich von den Experten. In der Systemtheorie ist das logisch. In der Lebenswelt hingegen absurd. Denn Dinge, auch Systeme tun nichts. – Allenfalls kann „durch“ eine Initiative etwas gewollt, verlangt oder getan werden oder es kann „durch“ ein System etwas nicht hingenommen werden oder innerhalb einer Studie etwas berechnet werden. Grundsätzlich sind es aber Menschen, die etwas hinnehmen, wollen, verlangen und vor allem tun, nicht ein System, nicht ein Ding. Der Umstand, dass sich Menschen hinter einem System, hinter systematischen Abläufen verstecken, um sich ihrer Verantwortung nicht stellen zu müssen, ist allerdings oft der Grund einer solchen Sprache. Experten tun dies per Definition: Unter systemspezifischen Gesichtspunkten sind etwa die hohen Gehälter von Finanzexperten erklärbar, hinsichtlich der Sinnfrage und der Lebenswelt jedoch unhöflich, unflätig und absurd. Habermas spricht in diesem Zusammenhang nicht mehr vom „handelnden Menschen“, sondern vom „hantierenden Menschen“ und macht damit auf die heute bereits weit fortgeschrittene Versystematisierung des Lebens bzw. auf die Verdinglichung der Menschen und auf die Vermenschlichung von Systemen aufmerksam. Selbstredend lassen sich Systeme eben so wenig vermenschlichen, wie sich Menschen verdinglichen lassen – und jeder Versuch, dies zu tun, endet in der Unmenschlichkeit. Es gilt zu bedenken, dass der Fortschritt noch so gross- ein System noch so raffiniert und ausgeklügelt sein kann: Dinge, auch Systeme können weder etwas tun, noch eine Meinung haben, geschweige denn, sich für eine Überzeugung einsetzen. Sie können nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden, es ist ihnen keine Moral inne. Für unser eigenes Tun ist entsprechend weder ein System, noch ein Experte mit seinen Ratschlägen verantwortlich, sondern wir als Handelnde selbst.

Deshalb, liebe Leserin, lieber Leser: Lassen sie sich nicht unterkriegen und trauen sie sich das Bilden und das Kundtun ihrer eigenen Meinung zu.

…Denn der Zuständigkeitsanspruch der Behörden und Experten kommt einer Monopolisierung von Lebensbereichen durch Experten gleich und ist in zweierlei Hinsicht äusserst bedenklich:

 

  • Erstens werden Zusammenhänge, die erst ersichtlich sind, wenn man die Themen mit der Distanz des Laien und mit gesundem Menschenverstand angeht, nicht erkannt. Die Sinnfrage wird nicht nur nicht beantwortet, sondern gar nicht gestellt, und: „Erkenntnis entwickelt sich so weg von metaphysisch-ethischen Stellungnahmen zur Situation des Menschen in der Welt hin zu Fähigkeit und Anspruch, natürliche Erscheinungen durch Berechnung zu beherrschen und daraus die Ausbildung einer methodischen Lebensführung abzuleiten”, schreibt Michael Metzger. Vor allem im Bereich der Bildung kann das Reduzieren auf Funktionalität verheerend sein. Denn Bildung bedarf einer Idee vom Wesen der Dinge, nicht ausschliesslich von ihrer Funktion.

 

  • Zweitens werden in einem grösseren Zusammenhang die direktdemokratischen, schweizerischen Grundprinzipien der Meinungsäusserung und des politischen Gewichtens der eigenen Auffassung durch das Abstimmen langsam, subtil und oft unbemerkt aber effizient unterhölt. Der Stimmbürger wird entmündigt. In der Politik wird die Überbewertung des Experten- und Behördentums in der momentanen Diskussion über den Status des Rechtsstaates erkennbar. Rechtsexperten werden über den gesunden Menschenverstand des Individuums als Mitglied einer demokratischen Gesellschaft gestellt. Recht soll vor Demokratie stehen. Das ist falsch. Weil ein Rechtssystem von Rechtsexperten gemacht ist und Experten Menschen und deshalb fehlbar sind, muss der demokratische Prozess vor dem Recht kommen. Denn die direkte Demokratie ist die Grundlage aller Mitglieder eines Sozialverbandes, Rechte und Gesetze zu bestimmen und zu hinterfragen, um sie allenfalls ändern zu können. Die richtige Vorgehensweise muss stets von Neuem errungen werden. Das ist nur in Freiheit möglich, jedoch nicht, wenn für spezifische Gesinnungsgruppen das ihnen Genehme als politisch korrekt gesetzlich zementiert ist.

 

Blosses Recht ist statisch. Demokratie hingegen ist prozesshaft.

Im Leben steht Prozesshaftes vor Statischem: Der demokratische Prozess vor dem statischen Recht, die direkte Demokratie vor dem Rechtsstaat. – Was oft durch die Rechtsstaatlichkeit untermauert wird, ist im Wesentlichen demokratiefeindlich und äusserst gefährlich: Gesetzlich verankern lässt sich nämlich jeder Unsinn. Auch die grösste Menschenfeindlichkeit kann per Gesetz beschlossen- und zum Recht werden. Jeder Halunke kann sich auf das Gesetz berufen, solange seine Taten nicht gegen geltendes Recht verstossen. Dass Gesetze systemspezifisch richtig sind, heisst nicht, dass sie auch gerecht sind. Eine Rechtsordnung kann unfair, nicht gerecht, verheerend – gar von unsäglichem Grauen ausgestaltet sein und ins menschliche Desaster führen. Im zweiten Weltkrieg haben sich vor allem unangepasste Menschen gegen die Nazis und damit gegen das damalige Rechtssystem gestellt. Die Angepassten verhielten sich gemäss dem damaligen politischen Mainstream korrekt. (Vgl.: Ervin Staub in: Allan Guggenbühl: „Alle haben sich so lieb“, Weltwoche 0309)

  • Systeme ersetzen menschliches Handeln nicht, weil ihnen kein Moment der moralischen Reflektion inne wohnt.

Deshalb braucht es stets die offene Diskussion, die Freiheit für jeden Einzelnen, hinterfragen zu dürfen, die freie Meinungsäusserung und Rede und den Wettbewerb des besten Argumentes wie ihn bereits Sokrates beliebt gemacht hat.  Die richtige Handlung muss stets von Neuem errungen werden. Es ist ontogenetisch etwas grundlegend Verschiedenes, ob jemand aus freien Stücken also in Freiheit aus Eigenverantwortung und Verantwortung gegenüber andern auf eine bestimmte Art handelt oder ob jemand etwas tut, da es durch das Gesetz vorgeschrieben ist! Wenn nun Bürger, die das freie Individuum vor den Rechtsexperten und vor das Rechtssystem stellen, als unhöflich, unflätig, inakzeptabel und schliesslich minder und herablassend als laienhaft gebrandmarkt werden, dann wirkt hoffentlich folgender Satz für Freiheitsliebende besonders tröstend:

  • Nicht die Existenz von Laien schafft Experten, sondern das Vorhandensein von Experten stempelt alle übrigen Mitglieder eines Sozialverbandes zu Laien.

Dieser Zusammenhang soll Hilfe und Aufmunterung sein, die Herausforderung anzunehmen, als Laie mit der akribischen Art des Sokrates nachzufragen, nachzuempfinden, nachzudenken und schliesslich zu beurteilen, um die eigene Stimme allenfalls auch gegen die gängigen Expertenmeinungen zu erheben und dort aufzubegehren, wo es nach eigenem Dafürhalten als für nötig erachtet wird.