Selbergross

auch Im Zeitalter des Expertentums

Month: September 2022

Funktionieren reicht nicht

Weniger Ideologie und mehr Mut zu Unterschieden und Ungleichheit. Denn Vielfältigkeit ist dann bereichernd wenn Unterschiede zugelassen und Ungleichheit nicht von Anfang an bewertet, sondern einfach angenommen wird. Die Diskrepanz zwischen Systemhaftem, Organisatorischem, Planerischem und  der Praxis kommt selten so klar zum Vorschein wie bei Fragen zur Schule. Denn hier reicht blosses Funktionieren nicht. 

Von Lukas Rüefli

 

Durch Vielfältigkeit entstehen Unterschiede. Wenn nun daraus eine Gesellschaftsfrage konstruiert wird, hat dies viel mit Ideologie- und wenig mit Praxis zu tun. – Erst recht nichts mit Gerechtigkeit! Die Erfahrung zeigt, dass beim Zwang zur Schulischen Integration Organisation, Planung, Methoden und  Abläufe immer mehr im Fokus sind.  Die persönlichen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Lehrpersonen in Psychologie, Entwicklungspsychologie sozialen und kulturellen Zusammenhängen hingegen eher weniger. Dabei sind gerade diese die Grundlage für Beziehungsarbeit zum einzelnen Kind und im heutigen Umfeld immens wichtig. – Es wird immer klarer: Nicht alle Entwicklungen sind gut, einfach weil sie statt finden. Und für einige Kinder wird ein zu einseitiges Schulsystem angewandt und unterstützt.  Das ist schade und oft traurig.

Das Problem wird zwar gesehen, aber in seiner Auswirkung nicht erkannt oder zu wenig gewichtet.  Die vermeintlichen Lösungsansätze tragen nicht zur Linderung bei, im Gegenteil, sie vernebeln Sicht und Reflexion: Denn um das grundsätzliche Funktionieren dieses Schulsystems zu gewähren, braucht es eine einvernehmende, immer komplexer werdende Organisation, der eine überdimensionierten, oft einengende Planungen, Einstufung, Verwaltung und Systematisierung zugrunde liegt. Um dieses Funktionieren aufrecht zu erhalten, investieren Bildungsverantwortliche, Schulleitungen und Lehrpersonen wiederum immense Mengen an Kraft und Energie in Organisation, Planung, Einstufung, in (immer wieder andere) Methoden.  Energie und Kraft, welche ich als Lehrperson akut für den  Bezug zu den einzelnen Kindern  gebrauchen würde; Kraft und Energie auch, die für echte individuelle Weiterbildung genutzt werden müsste, nämlich für den Aufbau und die Entwicklung von persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten und deren Anwendung unmittelbar und direkt für die Kinder. Denn blosses Funktionieren (einer Methode, eines Modells, eines Systems) reicht in der Schule  nicht; auch bei einem Höchstmass an Binnendifferenzierung. Möchte die Lehrperson jedem einzelnen Kind gerecht werden,  braucht es Beziehungsarbeit. Gestärkt werden müsste also ein Lernumfeld, durch welches die  Beziehung zu einer auch psychologisch und sozial äusserst kompetenten Lehrperson zentral ist. Das heisst: Weniger Kraft- und Energieverpuffung für (immer wieder andere) Methoden, weniger Abhacken und Erledigen, weniger blosses Funktionieren. Mehr nachhaltige, persönliche Kompetenz in Psychologie, Entwicklungspsychologie und in sozialen und kulturellen Zusammenhängen; mehr Aufbau (der Kinder) und mehr Bildung dieser. Vor allem aber zuerst: Mehr Wahrhaftigkeit, einzugestehen, dass im heutigen Schulsystem zu oft  Kindern und Situation  nicht gerecht geworden werden kann und dass Verschiedenheit auch Unterscheidung und Ungleichheit bedeutet.

Das Problem ist nicht fehlendes Engagement von Lehrpersonen oder fehlendes Geld, sondern der fehlende Wille und Mut, Probleme an- und auszusprechen und sich damit grundsätzlich gegen ein für zu viele Kinder unvorteilhaftes Schulsystem aktiv und öffentlich zu wehren: Fehlkonstruktionen zerschellen schlussendlich an der Wirklichkeit. Nur: Es geht um unsere Kinder und es liegt an uns, neue Wege zu gehen und Unterschiede zu akzeptieren, um das Bereichernde daran zu erkennen. Dazu dürfen Einführungs- und Kleinklassen nicht als etwas Schlechteres beurteilt werden. Miteinander verschieden sein können wir nur, wenn Unterschiede und Ungleichheit zugelassen werden. Im Übrigen auch unterschiedliche Meinungen und Haltungen.

Gefangen im Expertenzirkel

Nicht mehr der Mensch steht im Zentrum, sondern Systeme und die dazugehörigen Expertenzirkel. Konsens und Demokratie werden ausgehölt und übergangen. In der Bildung sind die Folgen bereits bedenklich.

Von Lukas Rüefli

 

Die aristokratische Öffentlichkeit erschöpfte sich in blosser Inszenierung und Darstellung. Mit bürgerlicher Öffentlichkeit hingegen wird ein zum politischen Bewusstsein erwachtes, sich emanzipierendes Bürgertum gemeint. Also ein artikulierender, kommentierender, publizisierender Gesellschaftstypus, dessen Mitglieder sich über einen selbstorganisierten Diskurs verständigen. Dadurch entsteht eine kritische Öffentlichkeit. Heute hat sich das Verhältnis zwischen Bürgertum und Staat wesentlich verändert. Antagonistische Gruppen treten gegeneinander auf und der Stärkere gewinnt. Der herrschaftslose Diskurs wird durch eine manipulierte, kontrollierte Art der Expertengläubigkeit abgelöst. Es gilt nicht mehr das bessere Argument, denn der Experte hat immer recht. Wahrheitsfindung und Verständigung liegen brach. Die Bedrohung besteht in den Prozessen, die mit Macht zu tun haben. Herrschaft wird um der Herrschaft Willen verinnerlicht. Was gewöhnlich als Ziel bezeichnet wird – das Glück des Individuums, Gesundheit und materielles Wohlergehen – gewinnt seine Bedeutung ausschliesslich durch die Möglichkeit, funktional zu werden. Solcher Verzicht bringt hinsichtlich der Mittel Rationalität und hinsichtlich des menschlichen Daseins Irrationalität hervor.

Das Aufkommen des Industrialismus hat qualitativ neue Phänomene im Gefolge gehabt. Phänomene deren Folge die Unterjochung der Natur innerhalb und ausserhalb des Menschen sind und die in ihrer Konsequenz einer Unterdrückung der Natur gleichkommen. Phänomene auch, deren Konsequenzen für die Gesellschaft als die Isolierung des Wissens von lebensweltlichen Bezügen beschrieben werden, welche durch Systeme gebildet und aufrechterhalten werden. Und tatsächlich geht auch für Max Horkheimer die Unterdrückung der Natur und die Selbsterhaltung des Individuums im industriellen Zeitalter mit der Systembildung einher: „Die Selbsterhaltung des Individuums setzt seine Anpassung an die Erfordernisse der Erhaltung des Systems voraus. Es hat keinen Raum mehr, sich dem System zu entziehen.“ Ähnlich Jürgen Habermas. Seine Kritik am technischen Denken ist an eine Denkhaltung gerichtet, die es dem Individuum verunmöglicht sich am Menschen zu orientieren. Weil sich das technische Denken nicht an Menschen richtet, sondern nur an das Verhalten von bloss hantierenden Menschen. Jegliche Regelung basiert auf dieser technischen Vernunft. An die Stelle einer Konsenssuche ist die technische Bewältigung eines Problems gerückt.  Und instrumentelle Vernunft wird gegen substantielle Vernunft gesetzt. Wissen ist immer interessengeleitet. Ideologisch wird man, weil man durch das Technische nicht weiter erklären, nicht etwas zu Ende erklären kann. Herrschaft und Politik beginnen sich mit technischen Sachzwängen zu rechtfertigen. Das unterhöhlt die demokratische Bewegung. Man sagt dann, es sei nicht anders möglich, weil es eben technische Sachzwänge gibt.

 

Das Technische, Systematische genügt nicht

Habermas plädiert für weitere Erkenntnisinteressen und erkennt Systeme als Funktionserfüller, die wegen ihrer Ausrichtung auf Rationales leistungsfähig sind. Diese Rationalität wird nach Max Horkeimer als Faktor der Zivilgesellschaft verstanden, sie führt aber gerade wegen dieser Ausrichtung auf die Ratio zu einer Immunisierung gegen moralische Wertansprüche, gegen Kompromisse, Integration und auf demokratischem Weg erreichten Konsens. „Denn die Diffusion einer systemspezifischen Rationalität in andere Systeme, die Lebensbereiche systematisieren, welche praktisch-moralisches Denken als irrationales, zu ihrer Ganzheitlichkeit aber notwendiges Denken brauchen, führt zwangsläufig in eine Auflösung demokratischer Strukturen durch abgeschlossene Expertenzirkel“, schreibt Michael Metzger.  Rationalität steht nicht für Ganzheitlichkeit und Expertenzirkel sind wegen ihrer funktional bedingten Autonomie kaum kontrollierbar und können sich deshalb weitgehende Indifferenz gegenüber den nicht intendierten Folgen ihres Handelns erlauben. Habermas beschreibt die institutionalisierten Austauschbeziehungen zwischen den funktionalen, kognitiv-technischen Systemen und der moralisch-praktischen Lebenswelt, die nur in dem Masse gelingen, wie ein kompensatorisches Gleichgewicht zwischen den beiden Bereichen geschaffen werden kann: „Um die Vorteile der gesellschaftlichen Differenzierung in Anspruch nehmen zu können, hat sich die Lebenswelt nach Massgabe der Systemerfordernisse um den Preis der Zerstörung traditionaler Lebensformen durchrationalisiert.“ Und: „Es besteht die Gefahr, dass die kompensatorische Gestaltung zwischen den Vorteilen und den Nachteilen dieser Rationalität in eine Kolonialisierung der Lebenswelt umschlägt, die sich unter anderem in der Spaltung zwischen abgeschlossenen Expertenzirkeln und der Alltagskultur niederschlägt. Der Moralbegriff wird aus dem Rationalitätsbegriff vollständig ausgeklammert und die Reproduktion kommunikativer lebensweltlicher Strukturen unterliegen einer nachhaltigen Störung.“

Der Einzelne hat keinen Raum mehr, sich dem System zu entziehen. Um die Vorteile der gesellschaftlichen Differenzierung in Anspruch nehmen zu können, hat sich die Lebenswelt nach Massgabe der Systemerfordernisse um den Preis der Zerstörung traditionaler Lebensformen durchrationalisiert.

 

Durchrationalisierung nach Systemerfordernissen geht ans Lebendige

Nicht mehr der Mensch steht im Zentrum, sondern das System und die dazugehörigen Expertenzirkel. Konsens und Demokratie werden ausgehölt und übergangen. Im Falle des „Bildungssystems Schweiz“, welches früher sinnigerweise oft als „Bildungslandschaft Schweiz“ bezeichnet wurde, hat dies katastrophale Folgen. Experten entscheiden etwa als Erziehungsdirektoren über die Köpfe des Volkes, der Eltern und Kinder hinweg. Erziehungs- und Bildungsfragen werden primär von Bildungsexperten beantwortet. Den Eltern und Lehrpersonen, welche sich unmittelbar in der schulischen Lebenswelt befinden, wird immer mehr das Entscheidungsterrain zugunsten der Bildungsexperten entzogen.  Wo früher Lehrerseminare standen wird heute das Bildungswesen durch die Wissenschaft, der damit einhergehenden Systemrationalität und entsprechenden Experten vereinnahmt. Die Befürchtungen von Habermas, Horkheimer und vielen anderen scheint sich zu bewahrheiten. Die Systemrationalität, und das damit einhergehende Expertentum führt gerade wegen der Ausrichtung auf die Ratio zu einer Immunisierung gegen moralische Wertansprüche, gegen Kompromisse, Integration und auf demokratischem Weg erreichten Konsens. Denn die Diffusion einer systemspezifischen Rationalität in Lebensbereiche, führt zwangsläufig in eine Auflösung demokratischer Strukturen durch abgeschlossene Expertenzirkel. – Es besteht die Gefahr, dass die kompensatorische Gestaltung zwischen den Vorteilen und den Nachteilen dieser Rationalität in eine Kolonialisierung der Lebenswelt umschlägt, die sich unter anderem in der Spaltung zwischen abgeschlossenen Expertenzirkeln und der Alltagskultur niederschlägt. Beispielhaft ist der Schulische Alltag, der sehr oft äusserst schwerlich mit den Vorgaben der Bildungsexperten in Einklang zu bringen ist. Erkenntnis entwickelt sich dann weg von metaphysich-ethischen Stellungnahmen des Menschen  in der Welt hin zu Fähigkeit und Anspruch, natürliche Erscheinungen durch Berechnung zu beherrschen und daraus die Ausbildung einer methodischen Lebensführung abzuleiten.

Realitätsverweigerung Massentierschlachtung

Zur heute alltäglichen Realitätsverweigerung. Und; zu deren schlimmen Folgen für das Zusammenleben von Mensch und Tier

Von Lukas Rüefli

 

Es scheint, als ob die Orientierung an der Wirklichkeit heute ein Zeichen für „Menschenfeindlichkeit“ im Allgemeinen und „Menschenrechtsfeindlichkeit“ im Speziellen geworden ist. Alexander Meschnig schreibt: “Der Gesinnungsethiker darf jederzeit realitätsfremde Maximalforderungen und abstrakte Ideale wie eine Monstranz vor sich her tragen”. – Tatsächlich kommts einem wie eine Prozession vor; wer ihr folgt ist gut – politisch korrekt – halt, wer aber inne hält oder ausschert, die Richtung wechselt ist nicht gut, sondern beispielsweise ein  Menschrechtsverweigerer. Bemerkenswerterweise scheint dies bezüglich Tieren weniger zu gelten. Dem Ausdruck Tierrechtsverweigerer begegne ich weniger. Selbst in Zeiten massiver tagtäglicher, systematischer Massentierhaltung und Massentierschlachtungen. Obwohl es doch um die Haltung generell gegenüber Geschöpfen geht. Im Gegenteil:

Ich erlebe, dass abwägende Denkerinnen, welche Ideen an der Realität abgleichen, um daraus gesellschaftlich Funktionierendes politisch abzuleiten, oft zu Unmenschen erklärt werden. Das “Nicht-sehn-wollen” wie die Realität beschaffen ist, wird zur Alltags- und Verdrängungsdoktrin. Einfach ersichtliche, völlig klare Realitäten, systemhafte Abläufe tagtäglich direkt vor unsern Augen, Nasen und Mündern etwa in Massenschlachthöfen und einfachste Grundsätze wie das Zulassen von Verschiedenheit durch grösstmögliche Freiheit des Einzelnen oder wie dasjenige, dass Rechte von Pflichten abhängen, auch Mensch- und Tierrechte von Menschenpflichten, werden nicht thematisiert, weil man sich dafür an den Alltagsmöglichkeiten und deren realistischer Umsetzung orientieren müsste. Dafür müsste jedoch andere Ansichten und Haltungen mit all ihren Konsequenzen viel mehr zugelassen- und viel weniger bewertet werden!

Aber nichts da: Wer Systemhaftes, Automatisiertes in Frage stellt, auf die Friktionen der Realität verweist, auf massive Probleme hinweist,  gilt schnell als politisch inkorrekt. Das ist böswillig, verlogen und gefährlich.

Verlogen, weil es dabei absichtlich nicht darum geht, momentan politisch inkorrekte Meinungen und Haltungen nach zu vollziehen; böswillig weil so Menschen diffamiert,  mundtot und handlungsunfähig gemacht werden. Und; gefährlich, weil viele nicht merken, dass sie sich mit ihrem Ideal “für alle gleich”, welches sie politisch umgesetzt sehen wollen, sich in eine Ideologie verrennen. Das hat weniger Meinungsäusserungsfreiheit und mehr mit Totelitarismus und Gleichmacherei zu tun.  Dies gilt es zu verhindern, auch wenn man dafür diffamiert wird.

Mitmenschlichkeit vs. Solidarität

Mitmenschlichkeit kann nicht erzwungen werden  – Solidarität schon.

Von Lukas Rüefli

 

Politisch verordnete Solidarität über die Grundbedürfnisse, den Schutz und die Würde der Einzelnen hinweg ist ungut. Dass dies viele PolitikerInnen noch immer nicht wahrhaben wollen, ist nicht nur schade, sondern auch schädlich. Denn verordnete Solidarität entsteht nicht aus einer inneren Haltung und Überzeugung der Einzelnen. Sie fliesst nicht von Mensch zu Mensch, sondern ist politisch vorgeschrieben und verpflichtend. Deshalb muss sie verwaltet und durchgesetzt werden. Daran wachsen Verwaltung und Administration – nicht aber die Menschen, weder diejenigen, welche gezwungen sind zu geben, noch diejenigen, welche empfangen.

Denn Mitmenschlichkeit kann nicht erzwungen werden. Aber eine Gesellschaft kann so ausgestaltet werden, dass der Einzelne aus eigenem Willen durch Mitgefühl, eigenständig und in Freiheit solidarisch handeln kann. Daraus entstünde eine echte Gemeinschaft von Innen, lebendig, prozesshaft – ein Ideal, dem sich Menschen, die in einer liberalen Gesellschaft leben möchten, immer wieder neu anzunähern versuchen müssen. Das heisst für die Politik: Weniger statischer, lebloser Gesetzesparagraph und mehr Mut zu Prozesshaftigkeit und Freiheit. Weg vom Zwang und hin zur Möglichkeit. Nur daraus entsteht solidarisches Handeln aus freien Stücken. Es ist nämlich ein für eine Gemeinschaft ausschlaggebender und grundsätzlicher Unterschied, ob sich die Menschen eigenständig und in Freiheit zu  achtsamem Handeln für Mensch, Tier und Umwelt entscheiden oder ob ihnen dieses per Solidaritätsfoderungen aufgezwungen wird. Ersteres ist durch eine innere Haltung der Handelnden authentisch und nachhaltig.

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