Nicht mehr der Mensch steht im Zentrum, sondern Systeme und die dazugehörigen Expertenzirkel. Konsens und Demokratie werden ausgehölt und übergangen. In der Bildung sind die Folgen bereits bedenklich.

Von Lukas Rüefli

 

Die aristokratische Öffentlichkeit erschöpfte sich in blosser Inszenierung und Darstellung. Mit bürgerlicher Öffentlichkeit hingegen wird ein zum politischen Bewusstsein erwachtes, sich emanzipierendes Bürgertum gemeint. Also ein artikulierender, kommentierender, publizisierender Gesellschaftstypus, dessen Mitglieder sich über einen selbstorganisierten Diskurs verständigen. Dadurch entsteht eine kritische Öffentlichkeit. Heute hat sich das Verhältnis zwischen Bürgertum und Staat wesentlich verändert. Antagonistische Gruppen treten gegeneinander auf und der Stärkere gewinnt. Der herrschaftslose Diskurs wird durch eine manipulierte, kontrollierte Art der Expertengläubigkeit abgelöst. Es gilt nicht mehr das bessere Argument, denn der Experte hat immer recht. Wahrheitsfindung und Verständigung liegen brach. Die Bedrohung besteht in den Prozessen, die mit Macht zu tun haben. Herrschaft wird um der Herrschaft Willen verinnerlicht. Was gewöhnlich als Ziel bezeichnet wird – das Glück des Individuums, Gesundheit und materielles Wohlergehen – gewinnt seine Bedeutung ausschliesslich durch die Möglichkeit, funktional zu werden. Solcher Verzicht bringt hinsichtlich der Mittel Rationalität und hinsichtlich des menschlichen Daseins Irrationalität hervor.

Das Aufkommen des Industrialismus hat qualitativ neue Phänomene im Gefolge gehabt. Phänomene deren Folge die Unterjochung der Natur innerhalb und ausserhalb des Menschen sind und die in ihrer Konsequenz einer Unterdrückung der Natur gleichkommen. Phänomene auch, deren Konsequenzen für die Gesellschaft als die Isolierung des Wissens von lebensweltlichen Bezügen beschrieben werden, welche durch Systeme gebildet und aufrechterhalten werden. Und tatsächlich geht auch für Max Horkheimer die Unterdrückung der Natur und die Selbsterhaltung des Individuums im industriellen Zeitalter mit der Systembildung einher: „Die Selbsterhaltung des Individuums setzt seine Anpassung an die Erfordernisse der Erhaltung des Systems voraus. Es hat keinen Raum mehr, sich dem System zu entziehen.“ Ähnlich Jürgen Habermas. Seine Kritik am technischen Denken ist an eine Denkhaltung gerichtet, die es dem Individuum verunmöglicht sich am Menschen zu orientieren. Weil sich das technische Denken nicht an Menschen richtet, sondern nur an das Verhalten von bloss hantierenden Menschen. Jegliche Regelung basiert auf dieser technischen Vernunft. An die Stelle einer Konsenssuche ist die technische Bewältigung eines Problems gerückt.  Und instrumentelle Vernunft wird gegen substantielle Vernunft gesetzt. Wissen ist immer interessengeleitet. Ideologisch wird man, weil man durch das Technische nicht weiter erklären, nicht etwas zu Ende erklären kann. Herrschaft und Politik beginnen sich mit technischen Sachzwängen zu rechtfertigen. Das unterhöhlt die demokratische Bewegung. Man sagt dann, es sei nicht anders möglich, weil es eben technische Sachzwänge gibt.

 

Das Technische, Systematische genügt nicht

Habermas plädiert für weitere Erkenntnisinteressen und erkennt Systeme als Funktionserfüller, die wegen ihrer Ausrichtung auf Rationales leistungsfähig sind. Diese Rationalität wird nach Max Horkeimer als Faktor der Zivilgesellschaft verstanden, sie führt aber gerade wegen dieser Ausrichtung auf die Ratio zu einer Immunisierung gegen moralische Wertansprüche, gegen Kompromisse, Integration und auf demokratischem Weg erreichten Konsens. „Denn die Diffusion einer systemspezifischen Rationalität in andere Systeme, die Lebensbereiche systematisieren, welche praktisch-moralisches Denken als irrationales, zu ihrer Ganzheitlichkeit aber notwendiges Denken brauchen, führt zwangsläufig in eine Auflösung demokratischer Strukturen durch abgeschlossene Expertenzirkel“, schreibt Michael Metzger.  Rationalität steht nicht für Ganzheitlichkeit und Expertenzirkel sind wegen ihrer funktional bedingten Autonomie kaum kontrollierbar und können sich deshalb weitgehende Indifferenz gegenüber den nicht intendierten Folgen ihres Handelns erlauben. Habermas beschreibt die institutionalisierten Austauschbeziehungen zwischen den funktionalen, kognitiv-technischen Systemen und der moralisch-praktischen Lebenswelt, die nur in dem Masse gelingen, wie ein kompensatorisches Gleichgewicht zwischen den beiden Bereichen geschaffen werden kann: „Um die Vorteile der gesellschaftlichen Differenzierung in Anspruch nehmen zu können, hat sich die Lebenswelt nach Massgabe der Systemerfordernisse um den Preis der Zerstörung traditionaler Lebensformen durchrationalisiert.“ Und: „Es besteht die Gefahr, dass die kompensatorische Gestaltung zwischen den Vorteilen und den Nachteilen dieser Rationalität in eine Kolonialisierung der Lebenswelt umschlägt, die sich unter anderem in der Spaltung zwischen abgeschlossenen Expertenzirkeln und der Alltagskultur niederschlägt. Der Moralbegriff wird aus dem Rationalitätsbegriff vollständig ausgeklammert und die Reproduktion kommunikativer lebensweltlicher Strukturen unterliegen einer nachhaltigen Störung.“

Der Einzelne hat keinen Raum mehr, sich dem System zu entziehen. Um die Vorteile der gesellschaftlichen Differenzierung in Anspruch nehmen zu können, hat sich die Lebenswelt nach Massgabe der Systemerfordernisse um den Preis der Zerstörung traditionaler Lebensformen durchrationalisiert.

 

Durchrationalisierung nach Systemerfordernissen geht ans Lebendige

Nicht mehr der Mensch steht im Zentrum, sondern das System und die dazugehörigen Expertenzirkel. Konsens und Demokratie werden ausgehölt und übergangen. Im Falle des „Bildungssystems Schweiz“, welches früher sinnigerweise oft als „Bildungslandschaft Schweiz“ bezeichnet wurde, hat dies katastrophale Folgen. Experten entscheiden etwa als Erziehungsdirektoren über die Köpfe des Volkes, der Eltern und Kinder hinweg. Erziehungs- und Bildungsfragen werden primär von Bildungsexperten beantwortet. Den Eltern und Lehrpersonen, welche sich unmittelbar in der schulischen Lebenswelt befinden, wird immer mehr das Entscheidungsterrain zugunsten der Bildungsexperten entzogen.  Wo früher Lehrerseminare standen wird heute das Bildungswesen durch die Wissenschaft, der damit einhergehenden Systemrationalität und entsprechenden Experten vereinnahmt. Die Befürchtungen von Habermas, Horkheimer und vielen anderen scheint sich zu bewahrheiten. Die Systemrationalität, und das damit einhergehende Expertentum führt gerade wegen der Ausrichtung auf die Ratio zu einer Immunisierung gegen moralische Wertansprüche, gegen Kompromisse, Integration und auf demokratischem Weg erreichten Konsens. Denn die Diffusion einer systemspezifischen Rationalität in Lebensbereiche, führt zwangsläufig in eine Auflösung demokratischer Strukturen durch abgeschlossene Expertenzirkel. – Es besteht die Gefahr, dass die kompensatorische Gestaltung zwischen den Vorteilen und den Nachteilen dieser Rationalität in eine Kolonialisierung der Lebenswelt umschlägt, die sich unter anderem in der Spaltung zwischen abgeschlossenen Expertenzirkeln und der Alltagskultur niederschlägt. Beispielhaft ist der Schulische Alltag, der sehr oft äusserst schwerlich mit den Vorgaben der Bildungsexperten in Einklang zu bringen ist. Erkenntnis entwickelt sich dann weg von metaphysich-ethischen Stellungnahmen des Menschen  in der Welt hin zu Fähigkeit und Anspruch, natürliche Erscheinungen durch Berechnung zu beherrschen und daraus die Ausbildung einer methodischen Lebensführung abzuleiten.