Funktionieren reicht nicht.
Weniger Ideologie und mehr Mut zu Unterschieden und Ungleichheit. Denn Vielfältigkeit ist dann bereichernd wenn Unterschiede zugelassen- und die daraus entstehende Ungleichheit nicht bewertet, sondern angenommen wird. Die Diskrepanz zwischen Ideologie und der Praxis kommt selten so klar zum Vorschein wie bei Fragen zur Volksschule. Denn hier reicht (meiner Meinung nach) blosses Funktionieren von Abläufen nicht.
Von Lukas Rüefli
Durch Vielfältigkeit entstehen Unterschiede. Wenn nun daraus eine Gesellschaftsfrage konstruiert wird, hat dies viel mit Ideologie- und wenig mit Praxis zu tun. – Erst recht nichts mit Gerechtigkeit! Die Erfahrung zeigt, dass beim faktischen Zwang zur „Schulischen Integration“ Organisation, Planung, Methoden und Abläufe den Schulalltag weitestgehend bestimmen. Zu wenig zum Tragen kommen die persönlichen Kompetenzen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Lehrpersonen und vor allem der Schulkinder. Eine gute Atmosphäre in einer Klassengemeinschaft zu erreichen, ist eine Kunst. Sie heisst Beziehungsarbeit und psychologisch, pädagogisch und didaktisch sinnvolles Handeln ist das Handwerk dazu. Ein Handwerk allerdings, das von Abläufen, Administration, Systematisierungen, Organisation, und Planung immer mehr erschwert wird. Aus dem Handwerk, dem Handeln wird so ein Hantieren. Das ist schade. Insbesondere, weil es voraussehbar war. Heute nun fehlt die Musse und Gelassenheit, einen tragenden, vertrauensvollen Bezug zu jedem einzelnen Kind der Klasse aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Eine Beziehung ist nichts Statisches, sondern prozesshaft, sie fordert Wendigkeit, Dynamik, Einsatz, viel Geduld und Wohlwollen. Planung, Organisation, Methodik und Abläufe sind Hilfen, Mittel zum Zweck, werden jedoch im Schulalltag zu oft zum alleinigen Inhalt. Nicht alle Entwicklungen sind gut, einfach weil sie statt finden. Und für einige Kinder wird ein zu einseitiges Schulsystem angewandt und unterstützt.
Das Problem wird zwar gesehen, aber in seiner Auswirkung nicht erkannt oder zu wenig gewichtet. Die vermeintlichen Lösungsansätze tragen nicht zur Linderung bei, im Gegenteil, sie vernebeln Sicht und Reflexion: Denn um das grundsätzliche Funktionieren dieses Schulsystems zu gewähren, braucht es eine einvernehmende, immer komplexer werdende Organisation, der eine überdimensionierten, oft einengende Planungen, Einstufung, Verwaltung und Systematisierung zugrunde liegt. Um dieses Funktionieren aufrecht zu erhalten, investieren Bildungsverantwortliche, Schulleitungen und Lehrpersonen wiederum immense Mengen an Kraft und Energie in Organisation, Planung, Einstufung, in (immer wieder andere) Methoden. Energie und Kraft, welche ich als Lehrperson akut für den Bezug zu den einzelnen Kindern gebrauchen würde; Kraft und Energie auch, die für echte individuelle Weiterbildung genutzt werden müsste, nämlich für den Aufbau und die Entwicklung von persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten und deren Anwendung unmittelbar und direkt für die Kinder. Denn blosses Funktionieren (einer Methode, eines Modells, eines Systems) reicht in der Schule nicht; auch bei einem Höchstmass an Binnendifferenzierung. Möchte die Lehrperson jedem einzelnen Kind gerecht werden, braucht es Beziehungsarbeit. Gestärkt werden müsste also ein Lernumfeld, durch welches die Beziehung zu einer auch psychologisch und sozial äusserst kompetenten Lehrperson zentral ist. Das heisst: Weniger Kraft- und Energieverpuffung für (immer wieder andere) Methoden, weniger Abhacken und Erledigen, weniger blosses Funktionieren. Mehr nachhaltige, persönliche Kompetenz in Psychologie, Entwicklungspsychologie und in sozialen und kulturellen Zusammenhängen; mehr Aufbau (der Kinder) und mehr Bildung dieser. Vor allem aber zuerst: Mehr Wahrhaftigkeit, einzugestehen, dass im heutigen Schulsystem zu oft Kindern und Situation nicht gerecht geworden werden kann und dass Verschiedenheit auch Unterscheidung und Ungleichheit bedeutet.
Das Problem ist nicht fehlendes Engagement von Lehrpersonen oder fehlendes Geld, sondern der fehlende Wille und Mut, Probleme an- und auszusprechen und sich damit grundsätzlich gegen ein für zu viele Kinder unvorteilhaftes Schulsystem aktiv und öffentlich zu wehren: Fehlkonstruktionen zerschellen schlussendlich an der Wirklichkeit. Nur: Es geht um unsere Kinder und es liegt an uns, neue Wege zu gehen und Unterschiede zu akzeptieren, um das Bereichernde daran zu erkennen. Dazu dürfen Einführungs- und Kleinklassen nicht als etwas Schlechteres beurteilt werden. Miteinander verschieden sein können wir nur, wenn Unterschiede und Ungleichheit zugelassen werden. Im Übrigen auch unterschiedliche Meinungen und Haltungen.
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