Sokrates wurde für das Äussern seiner Ansicht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Mittlerweilen haben viele Menschen die Möglichkeit, ihre Meinung kund zu tun, ohne mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen. Die freie Meinungsbildung ist aber auch heute nicht selbstverständlich. Das Problem besteht in der subtilen Einschüchterung und Bevormundung durch Experten. Oft wird ihre Meinung als diejenige der richtigen Ansicht kommuniziert. Dies mit dem Ziel, Experten- und Behördenmeinungen von der veröffentlichten- zur öffentlichen Meinung zu machen. Die Weitsicht und Distanz des Laien wird so vernachlässigt. Für Menschen, die weiterhin nach dem Prinzip der direkten Demokratie zusammenleben möchten, hat dies ungute Auswirkungen.

Von Lukas Rüefli

Sokrates stellt mit seiner Dialogik einen Wettstreit der Gesprächspartner um korrekte Begrifflichkeit und angemessenes Verständnis dar. Ihre Regeln sind einfach und allgemeingültig, darum lässt sie sich wie ein Rezept zur Beurteilung einer Überzeugung anwenden (vgl. De Botton): Am Anfang steht die Vermutung, eine Aussage sei, entgegen der Überzeugung der Person, welche sie geäussert hat, falsch. Werden tatsächlich Situationen und Zusammenhänge gefunden, in denen die Aussage nicht zutrifft, muss diese verworfen oder abgewandelt werden.

Die Athener traten Sokrates sehr kritisch gegenüber. Die offene Art, sein Denken und Fühlen zu beschreiben und seine Einstellungen und Meinungen kundzutun, wurde immer mehr als befremdend empfunden. Sein Ruf wurde zusehends schlechter, und er als komisch und störend wahrgenommen. Schliesslich wurde Sokrates eingesperrt und zum Tode verurteilt. Man hätte ihn sofort getötet, wäre die Urteilsvollstreckung nicht mit der Reise der Athener Gesandtschaft zu dem alljährlich stattfindenden Fest auf Delos zusammengefallen, während dem nach der Tradition niemand zu Tode gebracht werden durfte. – In der Zeit seiner Gefangenschaft gewann Sokrates das Vertrauen des Gefängniswärters. Der wollte ihm seine letzten Tage erleichtern und gestattete ihm, Besuch zu empfangen. Viele Denker jener Zeit traten mit ihm in Kontakt, um ihn anzuhören und mit ihm zu diskutieren. So kam es, dass sich sein Ruf so stark gewandelt hatte, dass kurz nach seinem Tod eine Statue zum Gedenken an den grossen Philosophen aufgestellt wurde (De Botton 2001)

Lic. phil., Lic. rer. soc., Lic. iur… und nun für schon fast jeden Beruf ein: BA und/oder MA – Expertenwissen statt eigene Erfahrung

Heute haben viele Menschen die Möglichkeit, ihre Meinung zu äussern, ohne mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen. Trotzdem ist die freie Meinungsbildung nicht so selbstverständlich wie es scheint. Das Problem ist subtiler. Es besteht in der stillen Übernahme von Expertenmeinungen: Die Kenntnisse der Laien gelten gegenüber dem Expertenwissen oft als minderwertig (vgl. Metzger 1993). Verständlicherweise lassen sich viele Menschen einschüchtern. Probleme werden weitergegeben, von Experten aufgenommen und bearbeitet. Systeme und Expertenhaftigkeit stehen vor gesundem Menschenverstand und Laientum.  Menschen, die selbstbewusst ihre Meinung kundtun und für diese einstehen sind rar – Expertenmeinungen und Ratschläge hingegen allgegenwärtig.  So werden immer mehr Lebensbereiche durch das Expertentum besetzt und versystematisiert: Das Finden eines geeigneten Lebenspartners, der Umgang mit den eigenen Kindern und vieles mehr werden zu Expertenthemen. Expertenhaftigkeit trägt jedoch möglicherweise nicht zur Entkrampfung eines Zusammentreffens zweier Menschen bei; denn, um zu erkennen, dass eine Begegnung durch Ehrlichkeit und Respekt vor der anderen Person an Qualität gewinnt, braucht es ebenso keine Experten wie für das Erkennen der Eigenheiten und Bedürfnisse des eigenen Kindes, wenn sich die Eltern wahrhaftig und gerne mit diesem auseinandersetzen. Die im Allgemeinen überbewertete Stellung des Experten hat zur Folge, dass oft nicht nur vor der Herausforderung kapituliert wird, sich mit einer Problematik intensiv auseinanderzusetzen, sondern auch von der Möglichkeit Abstand genommen wird, dies auf die eigene Art zu tun. Das Finden und Einbringen eigener Ansichten und Einstellungen, der eigenen Art schlechthin, bleibt ungenutzt und scheint unwichtig. Die persönliche Note geht verloren. Individualität und Vielfalt werden durch Allgemeinheit und Gleichmacherei verdrängt. Aus der Meinungsvielfalt wird Meinungsbrei – aus Demokratie wird Expertokratie.

Expertentum – jenseits eigener Kompetenz unzuständig und uninteressiert

Das Expertentum wird nach Michael Metzger idealtypisch als eine homogene, genau angebbare, unbestritten funktionale und deshalb für die gesellschaftliche Leitungs- und Vorreiterrollen legitimierte Gruppe, verstanden. Die herausgehobene Stellung der Experten impliziert die grundlegende Differenz zwischen System und Umwelt, zwischen Experten und Laien, und sie kann nur aufgrund der bewussten Konstitution dieser Differenzen innerhalb des Expertentums aufrecht erhalten werden (vgl. Metzger 1993). Das Zuständigkeitsgebiet eines Experten wird also durch Abgrenzung zu andern Wissensgebieten definiert. Der Umgang mit dem Wissen wird isoliert und systematisch organisiert. Jene, welche von dieser Organisation profitieren, gehören zu einem entsprechenden Expertenzirkel, sie sind so genannt professionalisiert. Dieser elitäre Anspruch ist zwar funktional, bildet aber den Nährboden für die Entwicklung eines Fachmenschentums, dessen Spezialisierung gleichzeitig Zuflucht vor Sinnfragen ist (vgl. Metzger 1993). “Der moderne Fachmensch kann sich aufgrund seiner Spezialisierung quasi ausserhalb gesellschaftlicher Lebensformen bewegen, indem er sich jenseits eigener Kompetenz unzuständig und uninteressiert erklären darf” (Metzger 1993).

Methodische Lebensführung durch Berechnung

Hier setzt Habermas mit seiner Kritik an. Im Schreiben „Theorie der Gesellschaft oder Systemtechnologie? – eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann“ verleiht er seiner Befürchtung Ausdruck, dass praktische Fragen im Vornherein als technische definiert und damit ungezwungener und öffentlicher Diskussion entzogen werden, dabei berichtet er von der Hochform eines technokratischen Bewusstseins. Lebenszusammenhänge aber sind zu mannigfaltig, als dass sie durch eine expertenhafte Herangehensweise zufriedenstellend erfasst werden könnten. Denn das Rekonstruktionsproblem der Wirklichkeit ist durch die extensionale und die intensionale Semantik manifest. Dinge können auch intensional, also in und durch sich selber, bedeutsam sein. Sie bestehen selbst dann, wenn sie nicht von aussen, also extensional, d.h. durch Abgrenzung und Differenz von Anderem erkennbar sind. Michael Metzger erkennt ausschliesslich extensionale Aussagen als durch Expertensysteme umsetzbar, da sie sich in Form von Kausalschemata ausdrücken lassen: „Die Begriffspaare Hart-Weich, Erklären-Verstehen, Extension-Intension besitzen die Gemeinsamkeit, eine technisch weder erfassbare noch überbrückbare Differenz zu bezeichnen, eine Differenz zwischen dem Vermögen zu abstrahieren und zu formalisieren und dem Vermögen zu verstehen, nicht aber erklären zu können. Die Lebenswelt aber unterliegt keiner extensionalen, sondern einer intensionalen Sicht, einer Sichtweise von Dingen also, über die nach positivistischer Auffassung sinnvoll überhaupt nicht gesprochen werden könnte“ (Metzger 1993). Die Reduktion allen Wissens auf eine technisierte und abstrahierte Sprache und in der Konsequenz auf codierte, generalisierte und gespeicherte Information führt zur Trennung des Wissens vom lebensweltlichen Kontext mit der Folge, dass Wissen nur dann angewendet wird, wenn es transformierbar ist. Erkenntnisinteressen werden eingeschränkt und Erkenntnis entwickelt sich weg von metaphysisch-ethischen Stellungnahmen zur Situation des Menschen in der Welt, hin zu Fähigkeit und Anspruch, natürliche Erscheinungen durch Berechnung zu beherrschen, um daraus die Ausbildung einer methodischen Lebensführung abzuleiten (vgl. Metzger 1993).

Dinge tun nichts

Die Experten- und Systemgläubigkeit kann sich im Alltag auf den Umgang mit der Wirklichkeit auswirken. Das Rekonstruktionsproblem der Wirklichkeit wird oft nur scheinbar gelöst, indem Systemen Handlungskompetenz attestiert wird. Systeme können dann beispielsweise drohen oder etwas hin- bzw. nicht hinnehmen: So droht das Schweizerische Gesundheitssystem zu kollabieren, und ein demokratisches System kann nicht hinnehmen, dass Menschen pauschal stigmatisiert und dämonisiert werden. Wenn der pragmatische Nutzungswert so zentral scheint, dass Verantwortung bezüglich der Lebenswelt und moralisch-praktischer Zusammenhänge auf Systeme abgeschoben wird, kann es gefährlich werden. Beispielsweise führt dann im Extremfall ein Staatssystem die Todesstrafe ein, und nicht die dafür Verantwortlichen. Oder Menschen werden durch einen staatlichen, technisch ausgeklügelten Vernichtungsapparat mit Säuberungsfunktion systematisch umgebracht, und nicht durch die dafür Verantwortlichen. Der Funktionalität wohnt kein Moment der moralischen Reflektion inne. – Zwar kann durch Versachlichung und Versystematisierung der Lebensabläufe sachlicher, effizienter, eventuell flexibler vorgegangen werden, dem menschlichen Erleben und Erfahren jedoch kommt wenig Bedeutung zu. Auch in alltäglichen Belangen: Oft sind Menschen gegenüber ihren Nächsten nicht mitfühlend sondern einfach betroffen. Agiert wird mehr aus Solidarität, weniger aus Nächstenliebe. Was die Menschen etwas angeht und nicht bloss betroffen macht, was also der Initiative, dem Einsatz, des Eingreifens, der Stimme – vielleicht des Aufbegehrens der Einzelnen bedürfte, wird so aus dem lebensweltlichen Zusammenhang in einen technischen, einem System entsprechenden Kontext gebracht. Zivilcourage, der persönliche Einsatz für Benachteiligte schwindet.

Entsprechend erkennt Jürgen Habermas das Systemdenken als eine Denkhaltung, die es dem Individuum verunmöglicht, sich am Menschen zu orientieren. Weil sich das technische Denken nicht an Menschen richtet, sondern nur an das Verhalten von hantierenden Menschen. Um der Würde der Menschen entsprechend zu agieren, bedarf es jedoch der sozialen Handlung. Die Gegenüberstellung von Bedürfnissen der Menschen und Funktionen der Systeme kann gleichsam als Nebeneinander zweier Welten verstanden werden. Jürgen Habermas und Niklas Luhmann zeichnen mit ihrer Kontroverse über die moralisch-praktische Lebenswelt bzw. die kognitiv-technische Welt ein Bild der Problematik, durch welches die Lage der Individuen anschaulich wird: Probleme werden durch Systeme der Institutionen und Organisationen schnell und effizient gelöst. Weil die Lebenswelt nicht nur aus Kognitiv-Technischem besteht, sondern auch aus Moralisch-Praktischem, geschieht dies auf Kosten der Natur, auf Kosten des Wesens des Menschen, auf Kosten des Wesentlichen.

Laientum als Chance: Nachfragen, nachempfinden, nachdenken, beurteilen

Um Bedeutung bezüglich lebensweltlicher Zusammenhänge zu erkennen, und entsprechend handeln zu können, bedarf es auch heute keiner jahrelangen akademischen Ausbildung, sondern einer kritischen Betrachtung von Fakten, Ereignissen, Zuständen und Entwicklungen. Hierfür sind jene Tugenden hilfreich, welche das Handeln und die Dialogik des Sokrates auszeichnen: Wertschätzung des eigenen Empfindens und Nachdenkens, auch jenseits expertenhafter Kompetenz, sowie Standhaftigkeit und Rückgrat (vgl. Alain de Botton 2001). Es gilt, sich nicht einfach dem Gros gängiger Ansichten anzuschliessen, auch wenn es sich dabei um Expertenmeinungen handelt (vgl. Schlapp 2003). Es kann sein, dass sich ein Entscheid bezüglich der technisch-kognitiven Lebenswelt als nützlich erweist, auf die moralisch-praktische Lebenswelt aber schlimme Auswirkungen hat. Um dies zu verhindern, müssen Probleme die kognitiv-technisch bearbeitet werden, auch auf die moralisch-praktische Lebenswelt bezogen werden. Dabei muss „das Dogma der wertfreien Handlungsorientierung (Metzger 1993)”, des technologischen Imperativ durchbrochen werden, um so der menschlichen Natur, durch das Ins-Zentrum-Setzen der moralisch-praktischen Lebenswelt, gerecht zu werden (vgl. Horkheimer 1991). Beispielhaft hierfür kann die Tätigkeit kommentierend schreibender Autoren sein. In der Journalistik gilt der kommentierend schreibende Autor als bewertender und erklärender Ergänzer zur Nachrichteninformation. Er fragt- empfindet- und denkt nach, um sich eine eigene Meinung zu bilden, und diese durch Erläuterung und Erklärung aufzuzeigen. „Es gibt keine Maschine für diese Arbeit“, sagte Lukas Hässig von der Weltwoche im Rahmen der qualitativen Untersuchung für die Lizentiatsarbeit: „Kommentierend Schreiben im Zeitalter des Expertentums“. Journalisten sind überzeugt, dass man durch das Kommentierende Schreiben der Realität oft näher kommt als durch andere Formen. Viele Autoren sind dann mit ihrem Tun zufrieden, wenn die Möglichkeit, der expertenhaften Art gegeben ist, gleichzeitig aber stets versucht wird, nicht nur den Laienblick-, sondern auch das Empfinden für den Laien und das Empfinden als Laie bezüglich einer Thematik zu bewahren (vgl. Rüefli 2004): „Der kommentierend Schreibende sollte immer so ein bisschen ein Dilettant sein“, meint Christoph Zürcher von der NZZ am Sonntag; nur durch diese Distanz bestehe die Möglichkeit Probleme greifbar zu machen. Marc Comina vom Nachrichtenmagazin Facts drückt es so aus: „Den Laienblick bewahren – das ist ganz wichtig.“ Das „Wahrheit-schaffen-ohne-Experte-zu-sein“, wird von Finn Canonica vom Tages Anzeiger Magazin als erschreckend empfunden. Gleichzeitig sei es aber eine grosse Motivation. Und, dass es nicht bloss um wissenschaftliches Arbeiten geht, sei positiv. Man müsse die Dinge auf den Punkt bringen – und zwar in einem grösseren Zusammenhang, als dies durch die Wissenschaft getan werden könne. „Kommentieren hat was.“, meint auch Christoph Zürcher von der NZZ am Sonntag: „Was Ordnung schafft – das, was das Warum beantworten kann, kann nicht nur mit Wissen beantwortet werden“. Daniel Weber vom NZZ Folio spricht gar vom Ausbrechen aus Fachgrenzen (vgl. Rüefli 2004).

Der hohe Stellenwert, der von kommentierend Schreibenden der laienhaften Herangehensweise zugesprochen wird und ihre Bemühungen, stets den Laienblick zu wahren, können Hilfe und Aufmunterung sein. Aufmunterung, die Herausforderung anzunehmen, mit der penetrant akribischen Art des Sokrates nachzufragen, nachzuempfinden und nachzudenken. Und Hilfe, Vorkommnisse beurteilen- und entsprechend handeln zu können. Das Interesse an den Wesen, am Wesentlichen und an praktischen, lebensweltlichen Bezügen auch jenseits expertenhafter Kompetenz ist Voraussetzung dazu, die eigene Stimme allenfalls auch gegen die gängigen Expertenmeinungen zu erheben und dort aufzubegehren, wo es nach eigenem Dafürhalten für nötig erachtet wird.

Literatur

Bell, Daniel: Die nachindustrielle Gesellschaft. 2. Aufl., Frankfurt am Main, New York 1992.

De Botton, Alain: Trost der Philosophie, 4. Aufl., Frankfurt am Main, 2001.

Habermas, Jürgen; Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Systemtechnologie? – Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann. Frankfurt am Main 1968.

Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, 2. Band, Frankfurt am Main 1981, S. 471ff.

Horkeimer, Max; Schmidt, Alfred (Hrsg.): Gesammelte Schriften, „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ und „Notizen“ 1949-69, Band 6, Frankfurt am Main 1991, S. 106.

Metzger, Michael: Das Expertentum in der Modernen Industriegesellschaft. Betriebswirtschaftliches Institut der Universität Stuttgart, Stuttgart 1993.

Rüefli, Lukas: Von der Aufklärung zur Abklärung. Kommentierend Schreiben im Zeitalter des Expertentum. Freiburg 2004.